
Buddhismus in Tibet
Der Tibetische Buddhismus wird auch Lamaismus genannt und ist eine nicht
nur in Tibet,
sondern auch in den angrenzenden Himalaya-Ländern praktizierte Form des
Mahayana-
Buddhismus. Das Spezifische des Tibetischen Buddhismus ist die
Verschmelzung der alten
Mönchsregeln des Sarvastivada mit den kultischen Methoden des
Tantrayana.28
Die Grundlagen des Tibetischen Buddhismus wurden im 8. Jhdt. unter der
Schutzherrschaft des Königs Trisong Detsen (755-797) von den indischen
Gelehrten Shantarakshita (ca. 725-788) und Padmasambhava (um 750) gelegt.
Diese sog. erste Verbreitung der buddhistischen Lehre in Tibet endete
Mitte des 9. Jhdts.
Die Schule der Nyingmapa (‚Die Schule der Alten‘, ‚Schule der Rotmützen‘)
beruft sich in ihren Unterweisungen auf diese Epoche. Wichtigste Lehre ist
das Dzogchen (‚Große Vollendung‘), das von Longchenpa (14. Jhdt.) zu einem
einheitlichen System zusammengefaßt wurde. Nach dieser auch als Ati-Yoga
(‚Außergewöhnlicher Yoga‘) bezeichneten Lehre ist der Geist als
selbstentstandenes Wissen seinem Wesen nach rein und unbefleckt. Da dies
jedoch nicht erkannt wird, irren die Lebewesen im Kreislauf der Existenzen
(Samsara) umher. Eine der Methoden, diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist
die unmittelbare Erkenntnis des ‚nackten‘ oder ‚gewöhnlichen‘ Geistes, der
jeglichen Bewußtseinsaktivitäten zugrunde liegt. Er stellt die Pforte dar
zum ursprünglichen Wissen, der Einheit von Leerheit (Shunyata) und
Klarheit.
Die Nyingmapa besitzen weiters die umfangreichste sog. Terma-Literatur.
Ein Terma (‚Schatz‘) ist ein religiöser Text, der während der ersten
Verbreitung des Buddhismus im 8. Jhdt. an geheimen Orten verborgen wurde,
um später zu gegebener Zeit von einer qualifizierten Person entdeckt und
neu interpretiert zu werden. Die wichtigsten dieser Schriften gehen der
Legende nach auf Padmasambhava und seine Gefährtin Yeshe Tsogyel zurück.
Als eines der bedeutendsten Terma-Werke gilt das Bardo Thödol (‘Befreiung
durch Hören im
Zwischenzustand’, ‘Tibetisches Totenbuch’)29, das den Prozeß des Sterbens
und der
Wiedergeburt in drei Phasen oder Zwischenzustände gliedert, die eng mit
der Lehre der Drei
Buddhakörper (Trikaya) verbunden sind. Der Sterbevorgang selbst wird als
schrittweises
Auflösen der Körperorganisation, als ein Verfall der fünf Skandhas,
aufgefaßt.
28 Zu Tibet allgemein vgl. etwa: Ludwig, Klemens: Tibet. 2. Auflage
München 1996; Stein, Rolf A. (Hg.): Die Kultur Tibets. Berlin 1993; zum
Tibetischen Buddhismus speziell: Anderson, Walt: Der tibetische
Buddhismus. 3. Auflage Bern 1986; Govinda, Lama Anagarika: Grundlagen
tibetischer Mystik. 4. Auflage Bern 1975; Manshardt,
Jürgen (Bearb): Buddhismus in Tibet. Hamburg 1994; Söpa, Lhündub Geshe /
Hopkins, Jeffrey: Der tibetische Buddhismus. 6. Auflage München 1991.
29 Übersetzungen ins Deutsche: Dargyay, Eva K. / Dargyay, Lobsang Gesche
(Hg.): Das tibetische Buch der Toten. 5. Auflage Bern 1988; Evans-Wentz,
Walter Y. (Hg.): Das tibetanische Totenbuch oder die Nachtod-Erfahrungen
auf der Bardo-Stufe. 4. Auflage Olten 1990; Fremantle, Francesca / Trungpa,
Chögyam (Hg.): Das Totenbuch der
Tibeter. 16. Auflage München 1994; Das tibetische Totenbuch (Übers. von
Robert A.F.Thurman). Frankfurt/M.
1996; vgl. auch: Bokar Rinpoche: Der Tod und die Kunst des Sterbens im
tibetischen Buddhismus. Mechernich
1992; Lati Rinpoche / Hopkins, Jeffrey (Hg.): Stufen zur Unsterblichkeit.
4. Auflage München 1994; Sogyal Rinpoche: Das tibetische Buch vom Leben
und vom Sterben. 9. Auflage Bern 1994.
Eine Überlieferung von Bardo-Lehren findet sich neben der
Dzogchen-Tradition auch noch in
den Naro Chödrung (‘Sechs Doktrinen des Naropa’, neben der Mahamudra-Lehre
die wichtigsten Meditationstechniken der Kagyupa-Schule) und in der Schule
des Bön (‘herbeirufen’, ‘rezitieren’). Das Bön bezeichnet die religiöse
Urform in Tibet, die bis zur Gegenwart als eigenständige Strömung lebendig
geblieben ist (Bön und Buddhismus haben sich wechselseitig beeinflußt).30
In späteren Phasen kam es zur Ausbildung eines theoretischen Lehrgebäudes
und zur Bildung einer eigenständigen Schulrichtung, die sich von den
buddhistischen Schulen zwar
unterscheidet, jedoch bestimmte Auffassungen mit der Nyingmapa-Schule
teilt.
Nach der politisch motivierten Verfolgung des Buddhismus kam es erst im
11. Jhdt. zu einer
Wiederbelebung des tibetischen Buddhismus. Es entwickelten sich u.a. die
Schulen der Kagyupa
und der Sakyapa.
Die Schule der Kagyupa (‘Mündliche Übertragungslinie’) geht auf Tilopa
(988-1069) bzw.
seinen Schüler Naropa (1016-1100) zurück. Deren Lehren wurden von dessen
Schüler und
Übersetzer Marpa (1012-1097) von Indien nach Tibet gebracht, und von
seinem Schüler
Milarepa (1052-1135)31 und dessen Schüler Gampopa (1079-1153)32, etwa in
seinem
‘Juwelenschmuck der Befreiung’, dem ältesten sog. Lamrim (‘Stufen des
Weges’)-Werk,
systematisiert.
Im Zentrum dieser Schule stehen die dem Naropa zugeschriebenen Sechs
Doktrinen (Naro
Chödrung) und die Lehren des Mahamudra (‘Großes Siegel’). Diese Lehre
kommentiert das
Wissen um die Leere (Shunyata), die Freiheit vom Samsara und die
Untrennbarkeit dieser
Zustände. Als Meditationssystem beginnt die ‘gewöhnliche Übung’ des
Mahamudra mit dem
‘ruhigen Verweilen’ und führt zur Verwandlung jeglicher Erfahrung in die
Qualitäten von
Leerheit und Klarheit. Sie wird gelegentlich als das ‘tibetische Zen’
bezeichnet.
Eine Unterschule der Kagyupas ist die Karma-Kagyü-Schule (‘Mündliche
Übertragungslinie der
Karmapas’), die im 12. Jhdt. von Düsum Khyenpa (1110-1193), dem 1. Karmapa,
ins Leben
gerufen wurde. Die Lehrtradition der Karma-Kagyüs ist aufs engste mit der
Linie der Karmapas
verbunden. Die Karma-Kagyüs leisteten einen wesentlichen Beitrag zum
Erstarken der Rime-
Bewegung (einer im 19. Jhdt. in Osttibet vom Sakyapa Jamyang Khyentse
Wangpo (1820-1892) initiierte und v.a. von seinem Schüler Jamgon Kongtrul (1811-1899)
fortgeführte
Bewegung gegen sektiererische Tendenzen und für die Akzeptierung der
Eigenständigkeit jeder
Überlieferung, deren Einfluß auch heute noch in den Schulen der
Karma-Kagyüs und der
Nyingmapas spürbar ist) und sind heute eine der erfolgreichsten
buddhistischen Schulen im
Westen.
Die Schule der Sakyapa, benannt nach dem in Südtibet gelegenen Kloster
Sakya (‘Graue Erde’),
bemüht sich um eine systematische Ordnung des Tantra-Schrifttums. Sie
wandte ihre
Aufmerksamkeit aber auch Problemen der buddhistischen Logik zu und hatte
zwischen dem 13.
und 14. Jhdt. großen politischen Einfluß in Tibet.
30 Vgl. etwa: Baumer, Christoph: Bön. Die lebendige Ur-Religion Tibets.
Graz 1999.
31 Vgl. etwa: Evans-Wentz, Walter Y.: Milarepa - Tibets grosser Yogi. Bern
1978.
32 Übersetzung seiner Lehren ins Deutsche in: Gampopa: Der kostbare
Schmuck der Befreiung. Berlin 1996.
Vom Ende des 14. Jhdts. an entwickelte sich mit der Schule der Gelugpa
(‚Schule der
Tugendhaften‘, ‚Schule der Gelbmützen‘, ‚Gelbe Schule‘) die letzte der
vier Hauptschulen des
Tibetischen Buddhismus.
Diese Schule wurde von Tsongkapa (1357-1419) in der Nachfolge der Schule
der Kadampa
(‚Mündliche Unterweisung‘) begründet, die auf Atisha (980/90-1055)
zurückgeht und nach dem
Verfall des Buddhismus im 10. Jhdt. ihre Hauptaufgabe darin sah, die
richtige Auslegung der
Schriften zu gewährleisten und klar konzipierte meditative Übungen zur
‚Läuterung des Geistes‘
zu entwickeln.
Tsongkapas wichtigste Werke sind Lamrim Chenmo (‚Große Darlegung der
Stufen des Weges‘,
‚Stufenweg zur Erleuchtung‘) und Ngagrim Chenmo (‚Große Darlegung des
Geheimen
Mantra‘)33. Die größten Klöster Tibets wie Drepung, Sera und Ganden gehen
auf Tsongkapas
Wirken zurück.
Diese Schule legt besonderen Wert auf die Einhaltung der Mönchsregeln und
das gründliche
Studium der autoritativen Texte. Maßgeblich sind dabei v.a. die Literatur
zu den Stufen des
Weges (Lamrim) und die systematischen Werke über die verschiedenen
buddhistischen
Lehrmeinungen.
Mit der Institution der Dalai Lamas34 hat die Gelugpa-Schule seit dem 17.
Jhdt. die politische
Führung Tibets inne. Der Dalai Lama (mongol.-tibet. ‚Lehrer, dessen
Weisheit so groß wie der
Ozean ist‘) ist ein 1578 von dem Mongolenfürst Altan Khan an das dritte
Oberhaupt der
Gelugpa-Schule verliehener Ehrentitel. Diese enge Bindung an die Mongolei
brachte die
Gelugpas in eine politische Vormachtstellung, die sich mit dem ‚Großen‘ 5.
Dalai Lama Losang
Gyatso (1617-1682) zur Herrschaft über ganz Tibet festigte. Seit diesem
Zeitpunkt wird der
Dalai Lama als Inkarnation des Bodhisattva bzw. Buddha Avalokiteshvara (tib.
Chenresi, chin.
Kuan-yin, jap. Kannon) angesehen und der Panchen Lama (‚Lehrer, der ein
großer Gelehrter ist‘)
als sein geistiger Stellvertreter und Wiedergeburt des Buddha Amitabha
verehrt.
Jede dieser vier großen tibetischen Lehrtraditionen zeichnet sich aus
durch eine eigene Synthese
von philosophischer Theorie und deren praktischer Anwendung in der
Meditation.
Der Kanon des tibetischen Buddhismus, genannt Kangyur / Tengyur
(‘Übersetzung der
Verkündigung des Buddha / Übersetzung der Lehre des Buddha’), umfaßt über
300 Bände. Er
enthält alle nach einem Sanskrit-Original ins Tibetische übersetzten
buddhistischen Werke und
ist in verschiedenen Editionen überliefert, die sich in der Anordnung der
Texte unterscheiden.
Der Kangyur, die Sammlung der Unterweisungen des Buddha, besteht aus 92
Bänden mit 1055
Texten, während der Tengyur, die indischen Kommentarwerke, 224 Bände füllt
und 3626 Texte
umfaßt.
33 Übersetzung ins Deutsche: Hopkins, Jeffrey (Hg.): Tantra in Tibet. Das
geheime Mantra des Tsong-ka-pa. 5.
Auflage München 1994.
34 Vgl. etwa: Golzio, Karl-Heinz / Bandini, Pietro: Die vierzehn
Wiedergeburten des Dalai Lama. Die Herrscher
Tibets - wie sie wiederkommen, wie sie gefunden werden, was sie
hinterlassen haben. Bern 1997.
Amerbauer Martin: Einführung in die buddhistische Philosophie 44
Der Kangyur ist in sechs Abteilungen gegliedert:
1 Tantra.
2 Prajnaparamita.
3 Ratnakuta.
4 Avatamsaka.
5 Sutra (Mahayana- und Hinayana-Lehren).
6 Vinaya.
Der Tengyur unterteilt sich in drei große Abschnitte:
1 Stotras.
2 Kommentare zu den Tantras.
3 Kommentare zu den Sutren (u.a. Werke der Prajnaparamita-Literatur, der
Madhyamika- und
Yogacara-Schulen sowie des Abhidharma).
Übersicht über die tibetischen Schulen des Buddhismus
Shantarakshita (ca. 725-788)
Padmasambhava (um 750)
Nyingmapa (‚Die Schule der Alten‘): Dzogchen (‚Große Vollendung‘) =
Ati-Yoga
(‚Außergewöhnlicher Yoga‘)
Longchenpa (14. Jhdt.)
Terma-Literatur: Bardo Thödol (‘Befreiung durch Hören im Zwischenzustand’,
‘Tibetisches
Totenbuch’)
Kagyupa (‘Mündliche Übertragungslinie’): Sechs Doktrinen (Naro Chödrung),
Mahamudra
(‘Großes Siegel’)
Tilopa (988-1069)
Naropa (1016-1100)
Marpa (1012-1097)
Milarepa (1052-1135)
Gampopa (1079-1153): Juwelenschmuck der Befreiung, ältestes sog.
Lamrim-(‘Stufen des
Weges’-)Werk
Karma-Kagyü-Schule (‘Mündliche Übertragungslinie der Karmapas’): Düsum
Khyenpa (1110-
1193) begründet die Tradition des Karmapa
Sakyapa-Schule
Kadampa-Schule: (‚Mündliche Unterweisung‘):
Atisha (980/90-1055)
Gelugpa (‚Schule der Tugendhaften‘): Lamrim (‚Stufen des Weges‘)
Tsongkapa (1357-1419): Lamrim Chenmo (‚Große Darlegung der Stufen des
Weges‘,
‚Stufenweg zur Erleuchtung‘), Ngagrim Chenmo (‚Große Darlegung des
Geheimen Mantra‘)
Gendün Drub (1391-1475) begründet die Tradition des Dalai Lama; Tradition
des Panchen
Lama
Den gesamten Text finden Sie hier:
http://www.ubs.sbg.ac.at/people/BUDDH-1.pdf
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